Tote Mütter besuchen ihre Kinder

Mütter, die im Kindbett sterben, kommen zuweilen des Nachts auf die Erde zurück und pflegen ihre neugeborenen Kinder. Das machen sie sechs Wochen lang. Zu Lütolfs Zeiten kannte man noch viele Kinder, denen tote Mütter diese Pflege hatten zukommen lassen.

Zuweilen hört man die tote Mutter die Türen öffnen und schließen, ein- und ausgehen und allerlei vorkehren. Zuweilen werden Mütter belauscht, wie sie das Kind wickeln, wiegen oder stillen. Zuweilen sitzen sie sinnend neben dem Kleinen. In einer Familie, deren Mutter bei der Geburt eines Kindes starb, besorgte die älteste Tochter den Säugling und bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass die Kleine am Morgen immer frisch gewickelt war. Die jüngere Schwester erklärte ihr, dass sie des Nachts die Mutter zurückkommen und das Kindlein pflegen sah. Die Mädchen erzählten alles dem Vater, und dieser verbot ihnen, es anderen Leuten zu berichten. Die ältere Tochter konnte nun die die Mutter hören, aber nicht mit Augen sehen. So ging es sechs Wochen lang.

Eine Frau starb bei der Geburt ihres ersten Kindes. Auch sie erschien am Abend nach der Beerdigung wieder und nahm sich sorgsam des Kleinen an. Der Vater, der wach bei der Wiege saß, sah seine Frau erscheinen und fragte erstaunt: „Bist du es?“ Aber die Frage störte die Mutter. Sie legte das Kind, das sie eben aufgenommen hatte, wieder hin und verschwand. Nachher aber kam sie noch sechs Wochen lang jede Nacht das Kind zu pflegen.

(Aus Luzerner Sagen von Kuno Müller, Seite 30)

Siehe auch: Was sind arme Seelen?