Diebold Schilling vereitelt einen Justizirrtum

Diebold Schilling zeigt uns auf Folio 174v seiner Chronik eine Begebenheit die sich am 29. April 1495 auf der Richtstätte Sentimatt zugetragen hat.

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Diebold Schilling Chronik Folio 174v - Wikimedia

In der Bildmitte in rot gekleidet steht der Ratsrichter und hält das Richtschwert in der Hand. Er ist die wichtigste Person auf dem Bild und symbolisiert die obrigkeitliche Gerichtsbarkeit. Er macht eine Handbewegung zum Nachrichter (Henker) und befiehlt ihm inne zu halten.

Der Nachrichter guckt verduzt und setzt gehorchend das eisenbeschlagene Wagenrad wieder ab. Er wollte gerade mit dem Rädern beginnen und als erstes den rechten Unterschenkel des am Boden liegenden Verurteilten zertrümmern.

Was ist passiert?
Diebold Schilling ist herbeigeeilt. Er zeigt auf den Verurteilten und berichtet, dass dieser unschuldig sei. Diebold Schilling ist im Priestergewand gekleidet, denn er war ja auch Leutpriester in der Peterskapelle. Diebold Schilling ist auf dem Bild als untergeordnete Person dargestellt, die unterwürfig um Gnade für einen unschuldig Verurteilten bittet.

Der Verurteilte heisst Jakob Kessler und ist ein Landstreicher. Er kommt aus dem Breisgau und er soll in Lenzkirch bei Titisee im Schwarzwald einen Mord begangen haben. Das jedenfalls wird ihm angelastet und das hat er auch unter schwerer Folter gestanden. Dem Beichtvater aber hat er glaubhaft berichtet, dass das gar nicht stimmt und zwei Stadtknechte haben das auch gehört. Diese wandten sich an Diebold Schilling und dieser setzte sich mutig für die Gerechtigkeit ein.

Es wurden sofort Boten nach Lenzkirch ausgeschickt, um weitere Informationen zu erhalten. Doch in Lenzkirch wusste niemand von einem Mord zu berichten.
So wurde Jakob Kessler freigelassen und er ging dann nach Santiago de Compostela. Entweder aus Dank für seine Rettung oder es wurde ihm aufgetragen. Denn es war üblich, freigelassene Gefangene auf eine Strafwallfahrt zu schicken.

Ganz rechts im Bild wird ein Mann verbrannt, ebenfalls ein Auswärtiger. Er heisst Martin Senn, kommt aus Savoyen und soll eine Jungfrau erschlagen und mit einer Kuh Sodomie begangen haben.
Oben links im Bild ist ein dreieckiger Galgenbau zu sehen mit zwei Gehängten, die vielleicht schon vor Wochen aufgeknüpft wurden.
Zur Abschreckung liess man die Gehängten nämlich am Galgen baumeln, bis die Körper verfaulten und von selbst abfielen. Oben im Bild in der Mitte sieht man die Reuss und rechts davon hinter dem Rauch Teile der Museggmauer.

Auch wenn sich Diebold Schilling auf diesem Bild unterwürfig und bescheiden darstellt, so ist er doch der grosse Held. Wie konnte er es wagen während einer öffentlichen Hinrichtung vor einer grossen Menge von Schaulustigen ein Gerichtsurteil der Obrigkeit anzuzweifeln, die sich selbst als von Gott eingesetzt und als unfehlbar erachtete?
Was für ein Risiko ist er dabei eingegangen?
Das lässt sich nur schwer erahnen, lässt aber vermuten, dass er mutig war und über genügend Ansehen verfügte, dass er sich das erlauben konnte. Anderen wäre für ein solches Gebaren “Reden gegen die Obrigkeit” zur Last gelegt worden und man hätte ihnen die rechte Hand abgehackt und sie an einem Pfahl erwürgt.

Diebold Schilling hat uns über die ungerechte Gerichtsbarkeit seiner Zeit aufgeklärt. Heute wissen wir, dass mit ungleichen Ellen gemessen wurde. Unter allen Hingerichteten dieser Zeit kamen 40% aus der Luzerner Landschaft (Untertanengebiet), 46,5% waren sonstige Auswärtige und nur gerade 2% waren Stadtluzerner.